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Oliver

Ein Bericht von Miriam Klann | Tiermedizinstudentin

Das ist Oliver. Er lebt in einem sogenannten „Tierheim“ auf Kreta. Die meiste Zeit ist er an einer Kette angeleint. Viele andere Hunde dort dürfen sich frei auf dem Gelände bewegen – Oliver nicht (oder nur selten). Er hat schlechte Karten, die schlechtesten überhaupt, um genau zu sein. Sein Fell ist schwarz, er ist groß, ein Rüde und seiner Optik nach zu urteilen mit einem Pitbull verwandt. Wer schon einmal im Tierschutz Tiere vermittelt hat, weiß, all dies sind Attribute, die eine Vermittlung quasi unmöglich machen. Ganz abgesehen davon, dass in diesem Tierheim sowieso keine Vermittlung stattfindet. Selbst wenn man jemanden finden würde, der einen großen, schwarzen Rüden adoptieren würde, sogenannte Kampf- oder besser Listenhund-Mischlinge dürfen nicht nach Deutschland einreisen, ganz egal wie freundlich sie auch sein mögen.

Ich persönlich hatte ein ziemlich ungutes Gefühl, als ich das erste Mal an Oliver vorbeigehen musste. Viele sagen: „Ich habe keine Angst, sondern Respekt“. Respekt habe ich vor jedem Lebewesen, vor einem Pitbull genauso wie vor einem Chihuahua, einem Schwein oder einem Schmetterling. Ich bemerke aber, dass sich meine innere Haltung automatisch verändert, wenn wir einen Hund von scheinbar „gefährlicher Rasse“ zur Kastration vorbereiten sollen. Ich bin vorsichtiger und skeptischer. Woher kommt das? Rational weiß ich, dass theoretisch jeder Hund gefährlich werden kann, dass er nicht aggressiv sein muss, nur weil er ein Pitbull ist.

Ich weiß auch, dass an der Spitze der Beißstatistik unangefochten die Schäferhunde stehen und Beißvorfälle meist menschliches Verschulden sind.
Wie ich schnell feststellen konnte, ist Oliver freundlich, verschmust und freut sich stets sehr über Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten. Mein ungutes Gefühl war also umsonst. Ich habe mich zu sehr von dem optischen Eindruck leiten lassen und mir im Nachhinein viele Gedanken über diese Situation gemacht.

Rassen sind das, was wir Menschen daraus gemacht haben. Seit vielen Jahren züchten wir uns alle möglichen Tiere so hin, wie sie uns gefallen – ohne Rücksicht auf Verluste.
Das Resultat sind oftmals komplett krank gezüchtete Linien. Möpse und Französische Bulldoggen, die kaum atmen können; taube Dalmatiner; Merle-Färbungen, die Blindheit und Sonnenunverträglichkeit zur Folge haben; entzündete, juckende Hautfalten bei Shar Peis… Ich könnte diese Liste noch ewig weiterführen. Wir sind so sehr auf die Optik gepolt, dass uns alles andere egal ist. Das hat nicht nur lebenslanges Leid für die Tiere zur Konsequenz, sondern ist an vielen Stellen auch tierschutzwidrig. Der „beste Freund des Menschen“ ist schon lange zu einem Statussymbol geworden. Er soll nicht nur stets gehorsam sein und sich alles gefallen lassen, sondern muss besonders schön und selten sein, wenig bellen und niedlich oder gefährlich aussehen. Um Letzteres zu erreichen, werden in manchen Kreisen immer noch Ohren und Schwanz gekürzt (kupiert). Ziemlich egoistisch, oder nicht?

Für tausende Euros werden Hunde und Katzen bereits vor der Geburt verkauft, weil sie eine bestimmte Farbe oder eine besonders tolle Abstammung haben. Während man in Tierheimen zusehen kann, wie sich immer mehr genauso schöne, besondere Mischlings-Welpen stapeln, die nicht kaputt gezüchtet sind und bereits existieren. So oft sehen wir Hunde, die niemals eine Chance bekommen werden zu beweisen, wie toll und einzigartig sie eigentlich sind. Wer oder was entscheidet denn als was, oder wo wir geboren werden? Ist es wirklich notwendig, dass wir in der Uni lernen müssen für welche Krankheiten bestimmte Rassen prädisponiert sind, weil vielen das Aussehen wichtiger ist als die Gesundheit?

Auch in der Vermittlung werden wir immer wieder gefragt, ob wir sagen können, welche Rasse ein Hund denn sei. Solche Fragen können wir nicht beantworten, denn wir kennen ja meist nicht einmal die Eltern der Tiere. Wir können nur sagen, wie freundlich, verschmust, dankbar, ruhig, aktiv und verspielt ein Tier ist – reicht das nicht?

Oft ist an die Rasse eine bestimmte Vorstellung geknüpft. Aggression, Intelligenz oder Gehorsam. Hunde wurden schließlich auch nach gewissen Eigenschaften gezüchtet, um diese zu nutzen. Aber der Charakter eines Hundes hängt nicht nur von seiner genetischen Ausstattung ab. Das sagt auch eine neue Studie der US-amerikanischen University of Massachusetts, laut der das Erbgut nur einen Bruchteil des Verhaltens erklärt und sich alle untersuchten Verhaltensweisen in jeder Hunderasse widerspiegelten (wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung).

Bei alldem wird häufig vergessen, dass Tiere Individuen sind, keine Roboter, die wir uns so zusammenstellen können, wie es uns am besten gefällt. Sie sehen unterschiedlich aus, haben unterschiedliche Charaktere, Stimmungen, Vorlieben, Macken und Verhaltensweisen.

Oliver weiß nicht, dass er ein Pitbull-Mischling ist. Er weiß nicht, wie er aussieht und wie er auf Menschen wirkt. Er weiß nur, dass die anderen Hunde mehr Aufmerksamkeit bekommen und lieber gestreichelt werden. Er spürt, dass manche Menschen Angst/“Respekt“ vor ihm haben.

Die anderen Hunde wissen das auch nicht, sie behandeln ihn nicht anders als jeden anderen Hund in diesem Tierheim. Vielleicht können wir hier etwas von ihnen lernen. Wir verlangen so viel von unseren Vierbeinern und das Einzige, was sie beanspruchen, ist unsere Liebe und Zuneigung. Sie sind nicht nachtragend oder abweisend zu uns, wenn wir uns falsch Verhalten oder anders aussehen. Lass uns alle ein bisschen mehr sein wie diese Tiere und das Herz, statt das Auge entscheiden lassen. Oder wie es Antoine de Saint-Exupéry in „Der kleine Prinz“ erklärt:

“Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“