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Kein Pflegehund!

Ein Bericht von Michelle Hoffmann | Tiermedizinstudentin

Während die meisten Kommilitonen sich auf den Weg zum Flughafen machen, um ihre Semesterferien am Strand oder irgendwo anders im Urlaub zu verbringen, führt zwar auch mein Weg zum Flughafen, jedoch mit dem Unterschied, dass vor mir keine Wochen der Entspannung liegen werden. Ich bin auf dem Weg nach Rumänien, um Gabriel abzulösen.
Ich bin müde. All der Prüfungsstress der letzten Wochen fällt plötzlich von mir ab. Trotzdem freue mich, nach einem halben Jahr nur theoretisch vor dem Schreibtisch sitzend, endlich wieder anpacken zu können und vor allem freue ich mich riesig, Nina zu sehen.

Beim Aussteigen aus dem Flugzeug verschlägt es mir im ersten Moment den Atem. Oh Gott, ist das kalt! Ich laufe durch die Passkontrolle, hole meinen Koffer und treffe Nina am Auto. Diese sieht aus, als wäre sie gerade von einer Nordpol-Mission zurückgekehrt und ich gebe zu, ein wenig neidisch auf ihre Winterkleidung zu sein. Es ist so unfassbar kalt. Es ist März und das Auto zeigt -18 Grad.

Zu unserem Einsatzort fahren wir mehrere Stunden. Im Auto haben wir genug Zeit zum Quatschen. Ich nutze die Chance, um noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass ich mir fest vorgenommen habe, keinen Pflegehund mit nach Hause zu nehmen. Das letzte Semester lief meistens coronabedingt online, jedoch werden immer mehr Maßnahmen eingestellt und wer weiß, wie sich das nächste Semester entwickelt. Meine Entscheidung steht. Es wird dieses Mal kein Hund mit mir nach Deutschland fahren. Ich weiß genau, dass ich in solchen Sachen schlecht stark sein kann und hoffe auf Nina. Während ich an unseren „Deal“ erinnere, dass ich nur komme, wenn ich keinen Hund mitnehme, bin ich fest davon überzeugt es auch durchzuziehen. Man muss doch schließlich nur ein paar Wochen stark sein, das sollte doch auch für mich mal möglich sein. Nina nimmt die neutrale Position ein und ihr einziger Inhalt zu dem Thema ist: „Es liegt ganz alleine in deinen Händen“. Wir lachen.

Ich lache, weil ich denke, ich bin dieses Mal definitiv stark. Nina lacht, weil sie genau weiß, wie das Thema enden wird…
Da ich an dem Einsatzort noch nicht gearbeitet habe, besprechen wir im Auto die Begebenheiten vor Ort und was genau uns erwarten wird.
Direkt nach Ankunft beginnen wir, unsere Sachen auszuladen, den OP aufzubauen und einzurichten.

Während ich aufbaue, hallen in mir die Gespräche über das Tierheim vor Ort nach, die wir im Auto geführt haben.
Es ist ein städtisches Tierheim in Rumänien. Eigentlich ist es völlig egal, wo in Rumänien wir uns befinden, denn es gibt etliche von ihnen. Zum Glück tötet dieses städtische Tierheim seit Jahren nicht mehr. Doch der Grund dafür, dass sie nicht töten müssen, ist der, dass Tierschützer verzweifelt jeden Hund retten. Was ist der Preis dafür? Ich gehe in Gedanken durch die Reihen. Sie müssen noch alle von uns kastriert werden. Über 40 Hunde befinden sich im Moment hier.

Erst mit der Kastration dürfen sie das städtische Tierheim verlassen. Zur Abwechslung mal ein sinnvolles Gesetz. Die Tierschützer retten alle. Alle, aber wohin mit all den Hunden? Die kleinen, niedlichen und freundlichen können sicher bald ausreisen in eine glückliche Zukunft. Aber die alten, die großen dunkeln, die ängstlichen, die, die bereits gebissen haben? Was wird mit ihnen geschehen? Sie werden nie ein glückliches Zuhause finden. Sie werden irgendwo in Unterkünfte gesteckt, in denen sie verwahrt werden. „Pensionen“ schimpfen sie sich. Bei diesem Wort denken wir sofort an unsere deutschen Standards. Glückliche Hunde, die gemeinsam mit anderen, bei Familienanschluss, über die Wiese toben und darauf warten, dass ihre Menschen aus dem Urlaub zurückkommen. Doch damit ist es in keiner Weise zu vergleichen. Wie viele solcher Unterkünfte wirklich aussehen beschreibe ich besser nicht. Es würde das Weltbild einer Pension zerstören.

„Fertig?“ reißt mich Nina aus meinen Gedanken. Fertig! Wir fahren zu unserer Unterkunft, um uns auch dort häuslich einzurichten.
Am nächsten Morgen beginnt unsere Aktion und ich laufe das erste Mal durch das Tierheim. Ich überfliege die vielen Hundegesichter. Viele sitzen kaum sichtbar in ihrer Hütte und fürchten sich vor mir. Andere stehen bellend am Zaun. Wende ich mich ihnen zu, so beginnen sie nervös zu knurren. Andere dagegen wedeln und lassen sich kurz streicheln. Dies ist aber die deutliche Minderheit.

Normalerweise schaue ich mir unsere Kastrationsorte zwar immer an, jedoch versuche ich nicht allzu viel Zeit und Emotionen in das jeweilige Tierheim zu stecken. Denn am Ende fährt man wieder ab und es ist klar, dass viele arme Seelen zurückbleiben werden. Die meisten mit einer weniger rosigen Zukunft.
Aber dieses Mal ist alles anders. Wieso alles anders ist? Genau weiß ich es auch nicht, aber ich versuche es zu erklären.
Wir beginnen mit den ersten Hunden aus dem Shelter.

Der erste Hund ist wirklich nicht sehr freundlich. Die Arbeiter im Tierheim haben ihre Fangschlinge bereit, stürzen in den Zwinger und werfen sie dem immer aggressiver werdenden Hund über.
Manche Hunde müssen wir mit so einer Fangschlinge von den Arbeitern sichern lassen, um uns selbst zu schützen. Hier braucht es aber wirklich viel Einfühlungsvermögen und Können von Seiten der Arbeiter, denn man kann viel falsch machen. Sobald der Arbeiter den Hund gesichert hat, muss alles schnell gehen. Sofort setze ich die Narkosespritze und rufe „Gata“. Eines meiner wenigen rumänischen Wörter. Es bedeutet „fertig“. Normalerweise sollte der Arbeiter sofort loslassen, denn während die Hunde so fixiert werden, bekommen sie schlecht Luft und geraten immer weiter in Panik. Doch der Arbeiter lässt nicht los. Ich sehe wie der Hund blau anläuft. Ich schreie ihn an er soll aufhören. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis er ihn endlich aus der Schlinge befreit.

Ich bin so wütend. Versuche mich aber zu beruhigen, schließlich kennen wir uns gegenseitig noch gar nicht. Wir sehen uns heute zum ersten Mal, es war der erste Hund für uns gemeinsam. Vielleicht muss sich das noch einspielen, der Hund war ja auch wirklich schwierig, rede ich mir ein.
Ich mache den narkotisierten Hund fertig für die OP und gebe dem Arbeiter ein Zeichen, dass wir den nächsten Hund machen können. Auch dieser ist mir nicht unbedingt freundlich gegenüber gestimmt, jedoch längst nicht so aggressiv, wie der Hund zuvor.  
Wieder stürzen die Arbeiter auf den Hund und es wiederholt sich die Tragödie vom Hund zuvor.  
Ich bin fassungslos!
Meine Emotionen befinden sich irgendwo zwischen wütend, traurig und verzweifelt, als ich zurück im OP ankomme. „Was ist los?“ fragt Nina, ohne dass ich nur ein Wort gesagt habe. „So geht das nicht, so können wir das nicht machen, es ist fruchtbar“. Ich erkläre ihr was vorgefallen ist. Nina schaut von ihrem OP-Tisch hoch. „Nein, so machen wir das bestimmt nicht. Wir dulden keine unnötige Brutalität!“.
Wir entscheiden, für heute abzubrechen und nicht weiter die Shelter-Hunde zu kastrieren.  
Wann wir die Hunde  vor Ort machen bleibt uns frei, am Ende der Aktion müssen sie, neben den ganzen Terminen von Privattieren, aber alle fertig kastriert sein.
Die Arbeiter in den städtischen Tierheimen haben keine Ausbildung, sie sind normale Angestellte der Stadt, die den Job zugeteilt bekommen. Kann es also sein, dass sie heute noch für das städtische Tierheim zuständig sind, bauen sie morgen einen Spielplatz in der Stadt. Ihnen fehlt jegliche Erfahrung.  Sie können Hunde nicht lesen und daher auch nicht einschätzen. Hinzu kommt, dass viele Angst vor Hunden haben.
Am nächsten Tag starte ich einen neuen Versuch. Nachdem unsere Termine abgearbeitet sind, beginne ich durchs Tierheim zu laufen. Im Schlepptau habe ich unseren neuen Praktikanten Horica. Er ist rumänischer Tierarzt. Frisch von der Uni, mit wenig praktischer Erfahrung, aber voller Energie zu lernen und mit dem Herzen am rechten Fleck. Nicht dabei habe ich einen Arbeiter. Ab jetzt werde ich allein durch die Reihen gehen und beurteilen, wie welcher Hund gehändelt werden muss. Es ist nicht ganz ungefährlich, in die Zwinger fremder Hunde zu gehen, doch wenn man mit ihnen kommuniziert und ihnen zuhört, dann ist vieles einfacher.

Gemeinsam gehen wir durch die Reihe. Wir bleiben vor dem ersten Zwinger stehen, an dessen Zettel nicht „Sterilizat“ steht. Der Hund ist also noch nicht kastriert. Es ist eine weiß/graue Hündin, die eingerollt neben ihrer Hütte liegt und zittert. Leise öffne ich die Zwingertür und gehe hinein. Horica bitte ich, vor dem Zwinger zu warten. Ich möchte, dass er zuerst zuschaut, wie man mit den Hunden kommuniziert. Außerdem möchte ich die Angst der Hündin nicht noch größer machen.

Ich betrete den Zwinger und hocke mich im größtmöglichen Abstand zu ihr hin. Sie schaut nicht hoch aber beginnt zu knurren. Ich schaue sie nicht an. Beginne zu beschwichtigen. Langsam bewege ich mich in der Hocke winzige Schritte auf sie zu. Ihr Knurren wird lauter und Horica merkbar nervöser. Ich lasse mich von all dem nicht beirren und rutsche näher ran. Kurz bevor ich den knurrenden Hund erreicht habe, ruft Horica mir zu: „Okay! Warte! Ich hole doch lieber einen Arbeiter. Sie wird dich beißen!“ Ich schaue ihn an. „Nein, gib ihr die Chance. Wir brauchen keinen Arbeiter, der sie mit der Schlinge überwältigt, während sie wild um sich beißend um ihr Leben fürchtet“. Du kannst an ihrer Haltung sehen, dass sie aus Angst knurrt, erkläre ich ruhig. Sie ist vollkommen defensiv. Sie will mir nichts tun. Sie kommuniziert mir ihre Angst.

Ich erkläre Horica, woran ich das erkenne. Trotzdem sehe ich, dass er mir nicht ganz glaubt. Er hat Angst, dass mich der Hund beißen wird. Ich rede der Hündin leise zu und beginne, sie vorsichtig zu berühren. In diesem Moment stoppt das Knurren. Sie traut sich nicht, mich anzuschauen, aber ich merke, dass es ihr gefällt. Ich nehme die aufgezogene Narkosespritze und spritze sie in den Muskel. Die Hündin macht keinen Mucks. Sie knurrt nicht und sie beißt auch nicht. Ich streichle das sanfte Mädchen weiter. Ein vorsichtiges Wedeln kann ich erkennen. Sie mag es.

Horica ist sichtlich beeindruckt. Während wir warten, dass sie friedlich einschläft, erkläre ich ihm noch einmal ausführlich ihre defensive Haltung.  
Hunde sind sehr gesellige Tiere. Sie kommunizieren in jeder möglichen Situation mit uns. Achten wir darauf und lassen uns auf ihre Sprache ein, so brauchen wir keine Angst haben. Kein Hund stürzt aus dem Nichts auf uns, um uns zu zerfleischen. Sie haben uns zuvor lange genug gewarnt. Das Problem ist, wir haben es nicht verstanden oder ignoriert. Dabei ist es egal, ob absichtlich oder unbeabsichtigt. Sie haben uns förmlich angeschrien, dass sie gleich keinen anderen Ausweg mehr sehen, als uns zu beißen und wir haben ihnen nicht oder komplett falsch geantwortet mit unserer Körperhaltung.

In diesem Fall hat sich die Hündin defensiv verhalten. Sie wollte mir zeigen, dass sie mir nichts tut, auch wenn sie geknurrt hat. Dies hat sie mir deutlich gezeigt, indem sie mich nicht fixiert hat und mich nicht einmal angeschaut hat. Sie hatte auch keine Körperhaltung, die nach vorne gerichtet war. Ihr Schwanz war weit unter ihren Bauch eingeklemmt. Die Ohren angelegt und der Kopf eingezogen. Die meisten Beißvorfälle entstehen, weil wir den Hunden nicht richtig zuhören oder sie einfach ignorieren und die Hunde am Ende keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich durch Beißen zu wehren. Wie also reagiert man auf so eine Situation? Die Hündin zeigt mir ganz deutlich, dass sie mir nichts tut, wenn ich ihr nichts tue. Sie sagt mir, dass sie Angst hat. Große Angst. Der erste Schritt ist getan. Ich habe ihr zugehört und sie verstanden. Nun muss ich ihr also nur noch antworten. Ich möchte ihr sagen, dass auch ich ihr nichts tun werde und keine Gefahr von mir ausgeht. Ich nutze dafür dieselben sogenannten „Calming signals“ (Beschwichtigungssignale), die sie auch nutzt. Ich hocke mich hin, mache mich klein. Ich fixiere sie nicht und schaue sie auch nicht an. Ich schaue deutlich sichtbar weg, die Augen Richtung Boden gerichtet, den Kopf etwas eingezogen. Ich beobachte sie nur im Augenwinkel. Sie kann meine Körpersprache lesen. Sie knurrt weiter, denn sie hat natürlich immer noch Angst vor mir, aber ich kann mich ihr langsam im Seitschritt nähern, ohne dass sie ihre Drohung verstärkt. Sie knurrt, zeigt aber weiterhin keine Zähne und schaut mich auch nicht an. Wir signalisieren also beide, dass wir gar nichts tun möchten. Zusätzlich hilft es, deutlich zu gähnen, zu schmatzen oder sich die Lippen zu lecken. Ich gebe zu, es sieht ziemlich bescheuert aus, aber es sind nun einmal Signale, über die auch Hunde untereinander kommunizieren. Sie empfinden es als beschwichtigend und nicht als albern, wie wir es empfinden.

Nun muss ich nur noch den ersten Schritt machen. Ihre Angst ist viel zu groß. Sie würde sich gerne in Luft auflösen. Sie sagt es ist okay, dass ich so nah bin, wäre aber nicht in der Lage einen Schritt auf mich zu zu machen. Ich mache also den ersten Schritt, indem ich sie vorsichtig anfasse. Hierbei packe ich natürlich nicht einfach zu, sondern berühre sie nur ganz vorsichtig. Einmal kurz für nur wenige Sekunden. Während mich die Hündin weiter beschwichtigt und auch ich nicht aufgehört habe zur Seite zu schauen und meine Beschwichtigungssignale anzuwenden, streichle ich ihr jetzt vorsichtig an der Seite entlang. Ihr knurren hört auf.

Sie hat verstanden, dass ich es ernst meine, ich habe mein Wort sozusagen gehalten und nicht nur beschwichtigt. Ich möchte ihr wirklich nichts tun. In diesem Moment fühlt sie sich einen Hauch sicherer und traut sich mich anzuschauen und ein wenig zu wedeln. Natürlich würde sich das Blatt wenden, sobald ich jetzt eine ruckartige Bewegung machen würde oder plötzlich laut losschreien würde. Aber fürs Erste sind wir an einem Punkt, an dem wir uns einig sind, dass keiner dem anderen etwas tun wird und es ok ist.
Das Ergebnis: Ich konnte ihr die Narkosespritze setzen, ohne Zwangsmaßnahmen vorzunehmen, ohne sie panisch um ihr Leben fürchten zu lassen und vor allem ohne selbst gebissen zu werden.

Was wäre passiert, wenn ich ihre Sprache nicht gelesen hätte? Oder ihr mit meiner Körpersprache eine falsche Antwort übermittelt hätte? Was wäre passiert, wenn ich in den Zwinger gelaufen wäre, schnurstracks auf sie zugegangen wäre, vielleicht noch in Eile mit schnellen Schritt? Mich über sie gebeugt hätte und ihr einfach ohne Vorwarnung die Spritze gesetzt hätte? Vermutlich hätte sie mir genauso schnurstracks, wie ich auf sie zugekommen wäre, in die Hand gebissen. Vielleicht hätte ich dieses Mal auch Glück gehabt und es wäre nichts passiert. Sicher ist, dass sie wieder einmal eine Bestätigung gehabt hätte, dass Menschen furchtbar sind und man ihnen nicht trauen kann.
All das zeigt: Es könnte so einfach sein, wenn jeder diese wenigen und doch so effizienten „Calming Signals“ verstehen und selbst anwenden würde, egal ob in Rumänien, Griechenland oder Deutschland.
 

Der nächste Hund in der Reihe ist ein mittelgroßer, sehr freundlicher Rüde. Einer derjenigen, die uns bereits freudestrahlend am Zaun begrüßen. Wir gehen hinein und er lässt sich von uns streicheln. Da Horica schon oft gesehen hat, wie die Männer mit den Fangschlingen arbeiten, jedoch selten, wie man einen Hund ohne Zwangsmittel in Narkose legen kann, möchte ich ihm zeigen, wie diese brutalen Vorgehensweisen die Hunde traumatisieren.

Ich nehme die Leine und werfe sie dem Rüde vorsichtig über den Kopf. Sofort verändert sich seine Haltung. Plötzlich ist er nicht mehr offen und fröhlich, sondern gerät in Panik. Ich lasse die Leine los, schließlich möchte ich ihn nicht weiter in Angst versetzten. Wir hocken im Zwinger und locken den Rüden wieder an. Er kommt, ist aber deutlich defensiver und verängstigt. „Siehst du den Unterschied? Die Hunde sind durch diese furchtbaren Einfangversuche mit den Fangschlingen traumatisiert!“ Horica nickt offensichtlich nachdenklich. Er hat verstanden was ich meine.

In der Nacht finde ich kaum Schlaf. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Auch die weiteren Tage wird es nicht besser. Immer wieder sehe ich, wie die Arbeiter mit unangemessenen Mitteln mit den Tieren arbeiten und welche Angst die Hunde vor den Männern haben.

Ich hatte mir wirklich vorgenommen, keine zu enge Bindung aufzubauen, aber an dem Punkt waren wir schon längst vorbei.
Ich habe schwer mit mir zu kämpfen. Ich habe es zu persönlich genommen. Immer wenn es persönlich wird, fängt es an weh zu tun und schlimm zu werden. Daher versuchen wir eigentlich, all das nicht so nah an uns ranzulassen, denn würden wir jedes Schicksal emotional betrachten, so würden wir nur noch weinend in der Ecke sitzen. Zu Recht. Aber damit ist niemanden geholfen. Normalerweise schaffe ich es, Abstand zu gewinnen, zumindest so gut es eben geht. Aber dieses Mal fällt es mir schwerer denn je. Ich habe es persönlich genommen und kann jetzt mit meinen Gefühlen nicht umgehen.

Meine Bindung zu den Hunden wird täglich größer, denn wir verbringen viel Zeit zwischen den Zwingern. Jeden Hund selbst einschätzen zu müssen braucht einiges an Zeit. Aber am Ende zahlt es sich aus, denn wir brauchen für kaum einen Hund Zwangsmaßnahmen. Die paar Hunde, die zu gefährlich sind, lassen wir übrig, bis ein Arbeiter wieder Schicht hat, dem wir als einzigen Vertrauen und der die Schlingfalle wirklich beherrscht. Er war der einzige Mitarbeiter, den ich immer wieder dabei sah, wie er fürsorglich und freundlich zu den Hunden war.
Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie man schnell, unkompliziert und gefahrlos die Fangschlinge als Hilfsmittel, statt als Zwangsmittel anwenden kann. Auch von Horica bin ich sehr überzeugt. Er ist hochmotiviert, die Hunde selbst einzuschätzen und in Narkose zu legen. Man kann beinahe täglich zusehen, wie er immer geübter wird. Außerdem ist er unser Sprachrohr mit den rumänischen Arbeitern. Er spricht als einziger englisch und rumänisch und hilft mir bei allen Kommunikationsproblemen aus.

Jeden Abend, nachdem der letzte Hund kastriert ist und der OP aufgeräumt, geputzt und für den nächsten Tag bereit ist, gehe ich durchs Tierheim. Nina weiß, dass ich mich in einem emotionalen Zwiespalt befinde und mir die Hunde sehr am Herzen liegen. Sie beschwert sich nicht einmal, dass sie nach Feierabend ihre Büroarbeit im Tierheim anfangen muss, anstatt zu Hause, weil ich noch durchs Tierheim laufen möchte. Vor jedem einzelnen Zwinger bleibe ich stehen, öffne die Tür und gehe hinein. Jeder der möchte bekommt eine Streicheleinheit. Wer nicht möchte, bekommt einfach nur ein paar nette Worte zugesprochen. Außerdem gibt es für jeden eine Kaustange.

Da die meisten Hunde einzeln gehalten werden, brauche ich keine Angst vor unschönen Beißereien und Futterneid zu haben. Außerdem fülle ich Wasserkrüge auf, die leer sind, weil sie anscheinend nicht von den Arbeitern kontrolliert wurden und verteile Decken an den ein oder anderen, frierenden Kandidaten nach der Operation.
Okay, sie hatten mich um den Finger gewickelt. Plötzlich waren es nicht mehr irgendwelche Hunde, sondern „meine“ Hunde.

Die ersten Tage waren um und ich hatte mich von meinem Vorhaben „kein Pflegehund“ nun offiziell verabschiedet. Nun war aber die Frage: Wer? Wer von all diesen treuen Augen, die mich jeden Morgen anwinseln und nach einem Hauch Aufmerksamkeit flehen, gebe ich die Chance? Ich kann sie nicht alle retten, das ist mir bewusst, macht die Entscheidung aber nicht unbedingt leichter. Bei dem Gedanken bricht mein Herz in tausend Teile.

Die extrem freundlichen und offenen Hunde sortiere ich aus. Sie sind die mit der größten Chance auf ein behütetes Zuhause.
Am nächsten Tag laufe ich wieder durch die Reihe. Ich schaue mir alle Hund an, deren Charaktere ich mittlerweile ganz gut kenne. Sie haben sich mir geöffnet, sind aber meist nur mir gegenüber anfassbar oder gar freundlich. Ich bleibe vor jedem Zwinger stehen, strecke meine Hand hindurch und versuche die einzelnen Hunde in Kategorien zu sortieren.
„Du wirst niemanden finden“ - „Du bist zu alt“ - schreit es in meinem Kopf, während ich die feuchte Hundenase streichle, die sich immer weiter durch die Gitterstäbe versucht zu quetschen, um noch mehr von den Streicheleinheiten zu erhaschen. Ich gehe weiter.
„Du wirst auch niemanden bekommen, du bist viel zu ängstlich“, flüstere ich dem Nächsten zu, der nach Tagen des Vertrauen-Gewinnens vorsichtig wedelnd am Zaun steht und der sich vor Angst einpinkelt, wenn ich ihn berühre. Ich spüre, wie gerne dieser kleine Rüde Kontakt möchte, aber kaum einer hat Zeit und Lust, sich mit so einem Hund zu beschäftigen. Der Nächste ist jung, klein und süß. Er wird was finden, da bin ich mir sicher. Aber schon wieder der Darauffolgende scheint in eine Schlingfalle für Hasen gekommen zu sein. Seine Achillessehne scheint gerissen und er läuft schlecht. Niemand möchte einen Hund, der krank oder gehandicapt ist.
So gehe ich weiter die Zwinger entlang. Meine Liste mit „kaum Chancen auf Vermittlung“ ist ziemlich lang, während die der „findet sicher etwas“ sich relativ kurz hält. Dabei ist jeder für sich ein toller Hund. Jeder würde mit den richtigen Menschen sicher viel Freude bringen.
Als ich vor dem letzten Zwinger stehe springt ein Schäferhund-Verschnitt freudig am Zwinger hoch. Ich öffne die Tür und zwänge mich hinein. Schwanzwedelnd springt er vor Freude an mir hoch und versucht, mich zum Spielen aufzufordern. Seine Liebe, die er mir schenkt, ist kaum zu bändigen. „Und Du“, sage ich, „Du musst aufhören Menschen anzuknurren. Die Leute haben Angst vor Dir! Hier fehlt den Arbeitern die Erfahrung zu sehen, dass man mit ein wenig Arbeit Dein Vertrauen erhaschen kann. Du wirst als aggressiv abgestempelt werden und irgendwo im letzten Zwinger versauern, ohne dass Dich je wieder jemand anfasst, Dir Aufmerksamkeit schenkt oder gar Liebe“.
Vor wenigen Tagen konnte ich seinen Zwinger nur mit größter Vorsicht betreten. Knurrend, nach vorne gerichtet stand er mir gegenüber und ich musste ihn ständig im Blick haben, denn dass er nicht in einem unbeobachteten Moment nach vorne stürzt und mich beißt, da war ich mir nicht sicher. Er war ein gutes Beispiel für Hunde, die einem keine „Calming Signals“ anbieten, sondern die ohne Wenn und Aber drohen. Er meinte es ernst. Eine falsche Antwort auf seine Drohung hätte mir ein paar Hundezähne im Arm beschert.
Nun einige Tage später, jeden Tag kurz am Zwinger gestanden und ihn ignoriert, mit Calming Signals beschwichtigt und eine Kaustange vorbeigebracht, ist sein Misstrauen mir gegenüber wie weggeblasen und ich kann alles mit ihm machen. Nicht einen Funken Angst habe ich mehr, dass er mich mit seinen spitzen Zähnen überraschen könnte.
„Die weiß-graue die mag ich ja schon irgendwie“, erkläre ich Nina. Trotz OP-Maske konnte ich ihr breites Grinsen deutlich erkennen, trotzdem antwortet sie nüchtern: „Ja, die ist niedlich, aber das musst du selbst wissen“.
Die typische: „Sie ist auf dem richtigen Weg und es braucht nicht mehr viel, aber ich will mir nicht nachsagen lassen du hast gesagt...“-Antwort.
Keine wirkliche Hilfe, aber ich kann‘s verstehen. Natürlich hätte ich immer gesagt, ich wollte ja nicht, und ich wäre ganz sicher stark geblieben, aber du hast gesagt…, funktioniert auch viel besser als sich einzugestehen, dass man am Ende (mal wieder) versagt hat! ; -). Abends im Bett fühlt es sich an, als würde mein Herz als Scherbenhaufen vor mir liegen. Schon wieder. So wie fast jeden Abend bei diesem Einsatz. Ich bin unfassbar wütend, traurig und müde. Mit diesem Gefühl schlafe ich letztlich ein.

Meine Entscheidung fällt auf die mittelgroße Hündin, die ängstlich eingerollt in der Ecke saß und mich vor lauter Angst angeknurrt hat, die weiß-graue. Sie wird niemanden finden. Da bin ich mir sicher. Aber was ist mit all den Anderen. Mit meiner Entscheidung muss ich mir die Tränen verkneifen. Wieso genau ich mich für sie entschieden habe, kann ich selbst nicht erklären. Ich hätte genauso jeden anderen mitnehmen können.

Als ich Nina meine Entscheidung mitteile, dass ich überraschenderweise doch einen Pflegehund mit nach Hause nehmen werde, lacht sie! Sie ist genauso glücklich wie ich, dass wenigstens ein Hund definitiv ein tolles Zuhause in Deutschland bekommen wird. Inima soll sie heißen. Das rumänische Wort für Herz. Ich finde, passender könnte der Name nicht sein, schließlich hat dieser Einsatz mein Herz so häufig berührt, wie selten ein anderer.  Als ich mit Hilfe von Horica dem zuständigen Tierarzt mitteile, dass ich Inima gerne mit nach Deutschland nehmen möchte, sehe ich auch dort ein Lächeln. Ich weiß nicht genau, was sie besprechen, aber ich weiß, dass sie keine schlechten Menschen sind. Sie sind einfach unbeholfen und haben oft keine andere Wahl.

Die Freude, dass ein Hund mit mir nach Deutschland darf, ist ehrlich, da besteht kein Zweifel. Ich gehe zu Inimas Zwinger, um auch ihr die Nachricht mitzuteilen. Als sie mich sieht springt sie auf, um mich schwanzwedelnd am Zaun zu begrüßen.
Ich gehe hinein und setzte mich zu ihr auf die Decke. Du darfst mit, flüstere ich ihr zu. Du wirst die Auserwählte sein, die das Los in eine glückliche Zukunft gezogen hat, sage ich weiter, während sie sich an mich schmiegt und mir versucht durchs Gesicht zu lecken. Was all das, was ich ihr da gerade sage, bedeutet, versteht sie natürlich nicht. Sie ist nur äußert glücklich, mich für ein paar Minuten für sich zu haben. Dass mein Herz wieder einmal zerbricht, weil auch die anderen Hunde in den umliegenden Zwingern versuchen, ihre Nasen so weit wie nur möglich in Inimas Zwinger zu stecken, um auch ein paar Streicheleinheiten zu bekommen, muss ich sicher nicht erwähnen. Auch sie streichle ich, nur mit dem Wissen, dass sie nicht mit nach Deutschland reisen werden.

Da die Hunde bereits bei Ankunft vom zuständigen Tierarzt geimpft werden, konnte Inima sich bereits zwei Tage vor mir mit einem Transport auf den Weg nach Deutschland machen.
Am letzten Tag habe ich es geschafft, auch den letzten noch so ängstlichen Hund aus seiner Hütte zu bekommen.
Ich laufe das letzte Mal durch die Reihen und streichle „meine“ liebgewonnenen Hunde. Mir steckt ein riesiger Kloß im Hals. Ich weiß, dass wir uns zum letzten Mal sehen werden. Und dass einige von ihnen vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben gestreichelt wurden. Den Hunden ist es nicht bewusst. Sie betteln am Zaun nur weiter nach mehr Aufmerksamkeit.
Jeder bekommt ein letztes Mal eine Kaustange und eine kurze Streicheleinheit. Dann mache auch ich mich auf den Weg zum Auto. „Können wir?“, fragt Nina. „Ja“, antworte ich den Tränen nahe.

Das Einzige was mich jetzt noch hält ist die Gewissheit, dass sich wenigstens eine Hündin genau in diesem Moment auf dem Weg nach Deutschland befindet.
Inima hat sich in Deutschland zu einer unfassbar tollen Hündin entwickelt. Sie ist lieb, verträglich, geduldig und einfach nur perfekt. Sie wird zu meiner ständigen Begleiterin und es ist, als würden wir schon seit Jahren zusammengehören. Diese hoffnungslose Hündin mitzunehmen war vermutlich die beste Entscheidung des Jahres. Ich habe sie unendlich lieb und sie mich genauso. Nie wieder hat sie geknurrt oder andere negative Auffälligkeiten gezeigt. Sogar Blut abnehmen konnte ich ihr, ohne dass sie jemand festhalten musste. Wir sind ein so enges Team geworden, dass ich überlegt habe, sie einfach zu behalten. Am Ende habe ich mich jedoch dagegen entschieden.

Einfach aus den Gründen, aus denen ich im Allgemeinen auch keinen Pflegehund wollte. Wer weiß, wie lange ich ihr wirklich gerecht werden kann im Studium. Für mich ist noch nicht die Zeit gekommen, einen eigenen Hund zu haben, es wäre dem Hund gegenüber nicht fair.  Ein ganzes Semester haben wir zusammen verbracht, bis sie nun ihre eigenen Menschen gefunden hat. Sie hat das perfekte Zuhause gefunden, da besteht kein Zweifel und ich darf mich regelmäßig an Fotos und Videos erfreuen.
Außerdem bin ich nun pünktlich zum Beginn der Semesterferien hundelos, um mich wieder auf den Weg nach Rumänien zu machen, um dort keinen Pflegehund mitzunehmen.
Ihre Michelle